Die abschließende Packerei
nach dem Aufstehen kommt mir unglaublich hektisch vor. Einmal wird mir
in der mitternächtlichen Hast fast übel, zumal ich das stresserzeugende
Gefühl habe, beim Packen einer der langsamsten zu sein.
Zum Frühstück esse
ich nur Kekse und trinke 3 Tassen Tee und Mineralgetränk. Mehr bringe
ich nicht hinunter. Meine Bekleidung ist die gleiche wie am Mount Kenia:
Funktionsunterwäsche, Bergtourenhose, Fleecepullover, Anorak. Um
1.00 Uhr brechen wir auf. Helmut hat recht behalten: Die Wolken haben
sich verzogen und der zunehmende Dreiviertelmond sorgt für eine höchst
willkommene, zusätzliche Beleuchtung. Das Gehtempo ist entsetzlich.
Natürlich, ich hatte viele Male gelesen, dass langsames Gehen an
diesem Berg der Schlüssel zum Erfolg ist. Wohl jedem von uns hatten
sich die Worte "pole pole" (langsam, langsam) schon zu Hause
ins Gehirn gehämmert, irgendwer formulierte einmal, "Trauermarschgeschwindigkeit"
sei die absolute Höchstgeschwindigkeit. Doch trotzdem: Jeder hat
ein individuelles Mindest-Gehtempo, dessen Unterschreitung nicht mehr
von einem Zuwachs an Durchhaltevermögen begleitet wird. William erweist
sich heute als der Hohe Priester des "pole pole" und geht so
langsam, dass ich immer wieder den Eindruck habe, nicht kontinuierlich
zu gehen, sondern einen Schritt zu machen, anzuhalten und erneut loszulaufen.
Während der ersten drei Stunden liegt meine Pulsfrequenz bei etwa
106/min. Andere Gruppen gehen schneller: Noch bevor wir gegen 4.15 Uhr
die Hans Meyer Höhle (etwa 5200 m) erreichen, sehen wir hoch über
uns die Stirnlampen anderer Gruppen aufblitzen. An der Höhle angekommen
wird mir übel. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn, ein
Kotzgefühl kommt auf und zu allem Überfluss habe ich das Gefühl,
dringend aus der Hose zu müssen. Gott sei Dank bleibt mir diese Heimsuchung
erspart. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei, aber ich merke jetzt,
das mir kalt ist. Ich krame die Regenhose aus dem Rucksack und ziehe noch
ein dickes Fleecehemd an. Zwischen Sturmhaube und Kapuze des Anoraks packe
ich noch ein wärmendes Taschentusch. Wieder aufgewärmt trinke
ich ein paar Schlucke und esse einen Müsliriegel. Das Wohlbefinden
ist wieder da und mit ihm die Zuversicht, bei Sonnenaufgang am Kraterrand
zu stehen.
Als gegen 6.00 Uhr die Sonne
aufgeht, sind wir noch nicht am Gilman's Point. William bleibt jetzt häufiger
stehen, was in unserer Gruppe nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt.
Wiederholt höre ich Manfred "Gemma, gemma" rufen und denke
mir, "recht hat er". Andere hingegen sind offenbar froh über
die Fürsorglichkeit unseres Führers und legen keinen Wert auf
eine zügigere Gangart. Helmut bildet deshalb zwei Gruppen. William
führt die schnellere Gruppe, der auch ich mich anschließe.
Schnell zeigt sich, das er nur aus Rücksicht auf uns Gipfelanwärter
so langsam ging, denn sein jetziger Schritt lässt jeden Wunsch nach
mehr Tempo verstummen.
Um 6.15 Uhr hat die erste
Gruppe das leichte Blockwerk unterhalb des Kraterrandes hinter sich gelassen
und kann vom Gilman's Point den Blick auf den Stufengletscher genießen.
Mag er auch in den 80er Jahren noch größer und prächtiger
gewesen sein, so ist doch auch sein jetziger Anblick für einen Kibo-Neuling
ein unvergessliches Erlebnis. Schade, dass die üblichen Kibo-Touren
nicht die Möglichkeit bieten, diesem einzigartigen Eisgebilde näher
zu kommen, ihn gar zu betreten.
Ich fühle die Anstrengung,
bin aber nicht fix und fertig. Kopfschmerzen habe ich keine und ich weiß
jetzt, dass dem Weiterweg zum Uhuru-Peak nichts im Wege steht. Einige
Minuten später kommt die zweite Gruppe und mit ihr Rolf hier an.
Rolf hatte offenkundig schwer mit dem Berg und seiner angeschlagenen Gesundheit
zu kämpfen und kann die Tatsache, endlich am Gilman's Point zu stehen,
wegen seiner Erschöpfung nicht mehr uneingeschränkt genießen.
Schon bald drängt Helmut
zum Weiterweg. Immerhin liegt noch ein Aufstieg von 180 Höhenmetern
und etwa anderthalb Stunden Dauer vor uns. Diesmal schließe ich
mich der langsameren Gruppe an, die von dem sehr jungen Assistant Guide
Patrokil geführt wird, während William es sich nicht nehmen
lässt, die schnelle Truppe zu führen. In unserer Gruppe bestimmt
Rosi, die mit bemerkenswerter Ausdauer, aber doch ziemlich langsam geht,
das Tempo. Da ich schneller gehen kann, nutze ich die Gelegenheit, mich
von der Gruppe abzusetzen und führerlos auf dem unübersehbaren
Pfad dem Uhuru Peak entgegen zu gehen. Ich genieße es, jetzt ganz
nach Lust und Laune stehenbleiben und fotografieren zu können um
dann wieder zügiger zu gehen, bis ich von der nun doch erheblichen
Anstrengung heruntergebremst werde. Bald tauchen die ersten Gletscher
auf, die nach Süden abfließen. Dieser Anblick ist phantastisch
und wie aus einer anderen Welt. Unvermittelt ragen sie mit senkrechten
Wänden aus dem völlig schneefreien Schutt empor. Einzelne erinnern
an Eisberge, andere an Säulenaltäre, begleitet von kleinen Büßereis-Ansammlungen.
Was für ein phantastisches Gefühl mag es sein, über einen
dieser Gletscher zum Kibo aufzusteigen und hier oben eine Nacht im Zelt
zu verbringen? Wiederholt denke ich daran, den Pfad zu verlassen um einmal
unmittelbar unter einer dieser Wände zu stehen - und lasse es dann
doch sein. Nicht weniger als zwanzig Minuten würde ich für Hin-
und Rückweg über den losen Schutt brauchen. Zu lange, um sich
einfach so abzusetzen. Und in Alpenmanier einfach mal "Gas geben"?
Nein, völlig ausgeschlossen.
Kurz nach 8.00 Uhr und nur
wenige Minuten nach der ersten Gruppe erreiche ich den Uhuru-Peak, 5.894
m, und genieße die tiefe Zufriedenheit, die mich jetzt durchströmt.
Zufriedenheit, aber auch Dankbarkeit, dass es mir vergönnt ist, den
höchsten Punkt Afrikas und meines bisherigen Bergsteigerlebens zu
erreichen, ohne Symptome von Höhenkrankheit zu spüren, ohne
völlig erschöpft zu sein, ja sogar ohne Kopfschmerzen zu haben.
Wie oft hatte ich mich vorbeugend damit beruhigt, dass die Chance, den
Uhuru-Peak zu erreichen, statistisch ohnehin nicht so gut ist, dass auch
der Gilman's Point als Besteigung zählt und dass ja der Weg das Ziel
ist. Und doch: Am Ende zählt nur der höchste Punkt und auf dem
stehe ich jetzt. Der Blick in den Kraterboden ist faszinierend und ernüchternd
zugleich. Faszinierend, weil ein mächtiger Gletscher in geradezu
unwirklichem Kontrast zur Umgebung wie ein Tafelberg dem Schutt entspringt,
ernüchternd, weil weit und breit kein Schnee zu sehen ist, der einem
Hoffnung auf den Fortbestand dieser einzigartigen Eisgebilde machen könnte.
Gewiss, die Trockenzeit ist fast zu Ende und bald wird es hier oben wieder
winterlicher aussehen. Gleichwohl wird das Problem der Kibo-Vergletscherung
hier offenbar. Wenn in einer stark vergletscherten Alpenregion die Schneegrenze
durch die globale Erwärmung um 100m steigt, dann werden die Gletscher
kümmerlicher, aber sie verschwinden nicht, weil sich nur die Höhenausdehnung
des Nährgebiets verringert. Am Kibo hingegen verschwindet mit einem
Schlag das ganze Nährgebiet und mit ihm schwinden die Gletscher dahin,
die die Attraktivität dieses Gipfels ausmachen.
Noch aber ist es nicht soweit und der Blick vom Uhuru-Peak ist ein Erlebnis,
von dem ich später noch geraume Zeit zehren werde. Schade, dass Rolf,
Konny und Wolfgang dieser krönende Abschluss nicht vergönnt
ist. Fast windstill ist es hier oben und wir können die Gipfelrast
genießen. Die Temperatur erscheint mir ganz angenehm, gefühlsmäßig
nur wenig unter Null Grad. Natürlich würde ich es gerne genauer
wissen, aber das im HAC4 eingebaute Thermometer reagiert dermaßen
träge, dass es für eine schnelle Messung schlechthin unbrauchbar
ist. Auch der Höhenmesser erweist sich als treulos und zeigt nur
5666 m. Aber immerhin zeigen die Geräte der "Konkurrenz"
von Suunto auch keine besseren Werte. Wie sollten sie auch, sind sie doch
allesamt tagelang nicht verlässlich nachgestellt worden.
Nach etwa einer halben Stunde
begeben wir uns wieder an den Abstieg. Jetzt schon erreichen erste Wolkenfetzen
den Kraterrand und sorgen dafür, dass der Filmvorrat geschont wird.
Nach weniger als einer Stunde sind wir wieder am Gilman's Point und steigen
zügig weiter zur Kibo-Hütte ab. Schnell wölkt es sich endgültig
ein und nur noch selten kann man rückblickend den Kraterrand sehen.
Der Niederschlag des Vortags kommt uns jetzt sehr zustatten, weil die
noch im Boden befindliche Feuchtigkeit den Staub bindet, was den Abstieg,
insbesondere das ab und an mögliche "Abfahren" durch feinen
Schutt angenehm macht.
Schon wenig oberhalb der Hans-Meyer-Höhle
waren wir beim Anstieg einem Bergsteiger begegnet, der offensichtlich
höhenkrank war und mühsam wieder nach unten geleitet werden
musste. Ein weiterer Bergsteiger wirkte am Gilman's Point ziemlich orientierungslos
und schwer angeschlagen. Und auch jetzt, in der Kibo-Hütte, müssen
wir erleben, wie ein Japaner in bedenklichem Zustand in einen Schlafraum
gebracht wird. Ich frage mich, was wohl mit ihm geschehen wird, wenn er
nicht nur katastrophal erschöpft, sondern wirklich höhenkrank
sein sollte. Ist er hier, auf 4700 m tief genug um sich zu erholen?
Unsere Begleitmannschaft serviert
etwas zu essen, aber mein Appetit ist denkbar gering. Während des
Essens setzt Regen ein, vor dem wir auch beim Weiterweg über den
Kibo-Sattel nicht dauerhaft verschont bleiben. Kein einziges Foto mache
ich auf dem Marsch durch diese wolkenverhangene Mondlandschaft, der in
jedem Bildband zu findende Kibo-Anblick von dieser Seite bleibt uns verwehrt.
Der breite und bequeme Weg
gibt mir die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Unterhaltung mit dem Assistant
Guide Patrokil, einem symphatischen jungen Mann von etwa zwanzig Jahren.
Bei dem angeregten Gespräch über Gott und die Welt fällt
es nicht schwer, die eintönige Lauferei zu vergessen. Um so überraschter
bin ich, als wir nach geraumer Zeit ein unscheinbare Wasserstelle, mehr
Pfütze als Rinnsaal passieren, die mit dem Schild "Last Water"
gekennzeichnet ist. Sollte das die in jeder Beschreibung der Marangu-Route
erwähnte letzte Wasserstelle sein? Es ist kaum vorstellbar, dass
dieses anscheinend vom Versiegen bedrohte Wasserloch den Flüssigkeitsbedarf
der vielen Kiboaspiranten decken kann, die den Gipfel auf unserem Abstiegweg
angehen. Tatsächlich erfahre ich später, dass es an einer anderen
Variante dieses Weges eine ergiebigere letzte Wasserstelle gibt.
An den Horombohütten
ist es neblig und regnerisch. Zielstrebig suchen Rolf und ich unser Zelt
auf und verschwinden sofort in den Schlafsäcken. Wieder einmal erreicht
uns die Kunde, dass es "Tea-Time" ist, im gemütlichsten
Dämmerzustand. Schon bald darauf gibt es ein Abendessen, das den
Appetit wieder belebt: Reis, Hähnchen, Gemüse und natürlich
eine Vorsuppe. Rolf ist von seiner Erkältung und der Anstrengung
des heutigen Tages ziemlich mitgenommen, er bleibt mit leichtem Fieber
im Zelt und macht sich dort über das Hähnchen her. Unsere Führer
erkundigen sich mit echtem Mitgefühl nach seinem Befinden und bieten
an, ihm Essen zu bringen, Tee zu kochen oder sonstige Annehmlichkeiten
zukommen zu lassen, doch letztlich braucht er einfach nur Ruhe.
Beim Aufstieg über die
meistbegangene Route sind die Horombohütten das "Camp 2".
Die Größe dieses Lagers verdeutlicht den Andrang, der auf dieser
Route herrscht: Neben einem Hüttendorf mit etlichen Zelten gibt es
hier auch eine einfache Einkaufsgelegenheit. Sogar Bier ist hier für
lumpige zwei Dollar die Flasche zu haben. Doch ich widerstehe der Versuchung
und hebe mir diesen Genuss für das Tal auf.
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