14. Tag
Donnerstag, 17. Oktober 2002
Uhuru Peak, 5896 m

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Die abschließende Packerei nach dem Aufstehen kommt mir unglaublich hektisch vor. Einmal wird mir in der mitternächtlichen Hast fast übel, zumal ich das stresserzeugende Gefühl habe, beim Packen einer der langsamsten zu sein.

Zum Frühstück esse ich nur Kekse und trinke 3 Tassen Tee und Mineralgetränk. Mehr bringe ich nicht hinunter. Meine Bekleidung ist die gleiche wie am Mount Kenia: Funktionsunterwäsche, Bergtourenhose, Fleecepullover, Anorak. Um 1.00 Uhr brechen wir auf. Helmut hat recht behalten: Die Wolken haben sich verzogen und der zunehmende Dreiviertelmond sorgt für eine höchst willkommene, zusätzliche Beleuchtung. Das Gehtempo ist entsetzlich. Natürlich, ich hatte viele Male gelesen, dass langsames Gehen an diesem Berg der Schlüssel zum Erfolg ist. Wohl jedem von uns hatten sich die Worte "pole pole" (langsam, langsam) schon zu Hause ins Gehirn gehämmert, irgendwer formulierte einmal, "Trauermarschgeschwindigkeit" sei die absolute Höchstgeschwindigkeit. Doch trotzdem: Jeder hat ein individuelles Mindest-Gehtempo, dessen Unterschreitung nicht mehr von einem Zuwachs an Durchhaltevermögen begleitet wird. William erweist sich heute als der Hohe Priester des "pole pole" und geht so langsam, dass ich immer wieder den Eindruck habe, nicht kontinuierlich zu gehen, sondern einen Schritt zu machen, anzuhalten und erneut loszulaufen. Während der ersten drei Stunden liegt meine Pulsfrequenz bei etwa 106/min. Andere Gruppen gehen schneller: Noch bevor wir gegen 4.15 Uhr die Hans Meyer Höhle (etwa 5200 m) erreichen, sehen wir hoch über uns die Stirnlampen anderer Gruppen aufblitzen. An der Höhle angekommen wird mir übel. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn, ein Kotzgefühl kommt auf und zu allem Überfluss habe ich das Gefühl, dringend aus der Hose zu müssen. Gott sei Dank bleibt mir diese Heimsuchung erspart. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei, aber ich merke jetzt, das mir kalt ist. Ich krame die Regenhose aus dem Rucksack und ziehe noch ein dickes Fleecehemd an. Zwischen Sturmhaube und Kapuze des Anoraks packe ich noch ein wärmendes Taschentusch. Wieder aufgewärmt trinke ich ein paar Schlucke und esse einen Müsliriegel. Das Wohlbefinden ist wieder da und mit ihm die Zuversicht, bei Sonnenaufgang am Kraterrand zu stehen.

Als gegen 6.00 Uhr die Sonne aufgeht, sind wir noch nicht am Gilman's Point. William bleibt jetzt häufiger stehen, was in unserer Gruppe nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt. Wiederholt höre ich Manfred "Gemma, gemma" rufen und denke mir, "recht hat er". Andere hingegen sind offenbar froh über die Fürsorglichkeit unseres Führers und legen keinen Wert auf eine zügigere Gangart. Helmut bildet deshalb zwei Gruppen. William führt die schnellere Gruppe, der auch ich mich anschließe. Schnell zeigt sich, das er nur aus Rücksicht auf uns Gipfelanwärter so langsam ging, denn sein jetziger Schritt lässt jeden Wunsch nach mehr Tempo verstummen.

Um 6.15 Uhr hat die erste Gruppe das leichte Blockwerk unterhalb des Kraterrandes hinter sich gelassen und kann vom Gilman's Point den Blick auf den Stufengletscher genießen. Mag er auch in den 80er Jahren noch größer und prächtiger gewesen sein, so ist doch auch sein jetziger Anblick für einen Kibo-Neuling ein unvergessliches Erlebnis. Schade, dass die üblichen Kibo-Touren nicht die Möglichkeit bieten, diesem einzigartigen Eisgebilde näher zu kommen, ihn gar zu betreten.

Ich fühle die Anstrengung, bin aber nicht fix und fertig. Kopfschmerzen habe ich keine und ich weiß jetzt, dass dem Weiterweg zum Uhuru-Peak nichts im Wege steht. Einige Minuten später kommt die zweite Gruppe und mit ihr Rolf hier an. Rolf hatte offenkundig schwer mit dem Berg und seiner angeschlagenen Gesundheit zu kämpfen und kann die Tatsache, endlich am Gilman's Point zu stehen, wegen seiner Erschöpfung nicht mehr uneingeschränkt genießen.

Schon bald drängt Helmut zum Weiterweg. Immerhin liegt noch ein Aufstieg von 180 Höhenmetern und etwa anderthalb Stunden Dauer vor uns. Diesmal schließe ich mich der langsameren Gruppe an, die von dem sehr jungen Assistant Guide Patrokil geführt wird, während William es sich nicht nehmen lässt, die schnelle Truppe zu führen. In unserer Gruppe bestimmt Rosi, die mit bemerkenswerter Ausdauer, aber doch ziemlich langsam geht, das Tempo. Da ich schneller gehen kann, nutze ich die Gelegenheit, mich von der Gruppe abzusetzen und führerlos auf dem unübersehbaren Pfad dem Uhuru Peak entgegen zu gehen. Ich genieße es, jetzt ganz nach Lust und Laune stehenbleiben und fotografieren zu können um dann wieder zügiger zu gehen, bis ich von der nun doch erheblichen Anstrengung heruntergebremst werde. Bald tauchen die ersten Gletscher auf, die nach Süden abfließen. Dieser Anblick ist phantastisch und wie aus einer anderen Welt. Unvermittelt ragen sie mit senkrechten Wänden aus dem völlig schneefreien Schutt empor. Einzelne erinnern an Eisberge, andere an Säulenaltäre, begleitet von kleinen Büßereis-Ansammlungen. Was für ein phantastisches Gefühl mag es sein, über einen dieser Gletscher zum Kibo aufzusteigen und hier oben eine Nacht im Zelt zu verbringen? Wiederholt denke ich daran, den Pfad zu verlassen um einmal unmittelbar unter einer dieser Wände zu stehen - und lasse es dann doch sein. Nicht weniger als zwanzig Minuten würde ich für Hin- und Rückweg über den losen Schutt brauchen. Zu lange, um sich einfach so abzusetzen. Und in Alpenmanier einfach mal "Gas geben"? Nein, völlig ausgeschlossen.

Kurz nach 8.00 Uhr und nur wenige Minuten nach der ersten Gruppe erreiche ich den Uhuru-Peak, 5.894 m, und genieße die tiefe Zufriedenheit, die mich jetzt durchströmt. Zufriedenheit, aber auch Dankbarkeit, dass es mir vergönnt ist, den höchsten Punkt Afrikas und meines bisherigen Bergsteigerlebens zu erreichen, ohne Symptome von Höhenkrankheit zu spüren, ohne völlig erschöpft zu sein, ja sogar ohne Kopfschmerzen zu haben. Wie oft hatte ich mich vorbeugend damit beruhigt, dass die Chance, den Uhuru-Peak zu erreichen, statistisch ohnehin nicht so gut ist, dass auch der Gilman's Point als Besteigung zählt und dass ja der Weg das Ziel ist. Und doch: Am Ende zählt nur der höchste Punkt und auf dem stehe ich jetzt. Der Blick in den Kraterboden ist faszinierend und ernüchternd zugleich. Faszinierend, weil ein mächtiger Gletscher in geradezu unwirklichem Kontrast zur Umgebung wie ein Tafelberg dem Schutt entspringt, ernüchternd, weil weit und breit kein Schnee zu sehen ist, der einem Hoffnung auf den Fortbestand dieser einzigartigen Eisgebilde machen könnte. Gewiss, die Trockenzeit ist fast zu Ende und bald wird es hier oben wieder winterlicher aussehen. Gleichwohl wird das Problem der Kibo-Vergletscherung hier offenbar. Wenn in einer stark vergletscherten Alpenregion die Schneegrenze durch die globale Erwärmung um 100m steigt, dann werden die Gletscher kümmerlicher, aber sie verschwinden nicht, weil sich nur die Höhenausdehnung des Nährgebiets verringert. Am Kibo hingegen verschwindet mit einem Schlag das ganze Nährgebiet und mit ihm schwinden die Gletscher dahin, die die Attraktivität dieses Gipfels ausmachen.

Noch aber ist es nicht soweit und der Blick vom Uhuru-Peak ist ein Erlebnis, von dem ich später noch geraume Zeit zehren werde. Schade, dass Rolf, Konny und Wolfgang dieser krönende Abschluss nicht vergönnt ist. Fast windstill ist es hier oben und wir können die Gipfelrast genießen. Die Temperatur erscheint mir ganz angenehm, gefühlsmäßig nur wenig unter Null Grad. Natürlich würde ich es gerne genauer wissen, aber das im HAC4 eingebaute Thermometer reagiert dermaßen träge, dass es für eine schnelle Messung schlechthin unbrauchbar ist. Auch der Höhenmesser erweist sich als treulos und zeigt nur 5666 m. Aber immerhin zeigen die Geräte der "Konkurrenz" von Suunto auch keine besseren Werte. Wie sollten sie auch, sind sie doch allesamt tagelang nicht verlässlich nachgestellt worden.

Nach etwa einer halben Stunde begeben wir uns wieder an den Abstieg. Jetzt schon erreichen erste Wolkenfetzen den Kraterrand und sorgen dafür, dass der Filmvorrat geschont wird. Nach weniger als einer Stunde sind wir wieder am Gilman's Point und steigen zügig weiter zur Kibo-Hütte ab. Schnell wölkt es sich endgültig ein und nur noch selten kann man rückblickend den Kraterrand sehen. Der Niederschlag des Vortags kommt uns jetzt sehr zustatten, weil die noch im Boden befindliche Feuchtigkeit den Staub bindet, was den Abstieg, insbesondere das ab und an mögliche "Abfahren" durch feinen Schutt angenehm macht.

Schon wenig oberhalb der Hans-Meyer-Höhle waren wir beim Anstieg einem Bergsteiger begegnet, der offensichtlich höhenkrank war und mühsam wieder nach unten geleitet werden musste. Ein weiterer Bergsteiger wirkte am Gilman's Point ziemlich orientierungslos und schwer angeschlagen. Und auch jetzt, in der Kibo-Hütte, müssen wir erleben, wie ein Japaner in bedenklichem Zustand in einen Schlafraum gebracht wird. Ich frage mich, was wohl mit ihm geschehen wird, wenn er nicht nur katastrophal erschöpft, sondern wirklich höhenkrank sein sollte. Ist er hier, auf 4700 m tief genug um sich zu erholen?

Unsere Begleitmannschaft serviert etwas zu essen, aber mein Appetit ist denkbar gering. Während des Essens setzt Regen ein, vor dem wir auch beim Weiterweg über den Kibo-Sattel nicht dauerhaft verschont bleiben. Kein einziges Foto mache ich auf dem Marsch durch diese wolkenverhangene Mondlandschaft, der in jedem Bildband zu findende Kibo-Anblick von dieser Seite bleibt uns verwehrt.

Der breite und bequeme Weg gibt mir die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Unterhaltung mit dem Assistant Guide Patrokil, einem symphatischen jungen Mann von etwa zwanzig Jahren. Bei dem angeregten Gespräch über Gott und die Welt fällt es nicht schwer, die eintönige Lauferei zu vergessen. Um so überraschter bin ich, als wir nach geraumer Zeit ein unscheinbare Wasserstelle, mehr Pfütze als Rinnsaal passieren, die mit dem Schild "Last Water" gekennzeichnet ist. Sollte das die in jeder Beschreibung der Marangu-Route erwähnte letzte Wasserstelle sein? Es ist kaum vorstellbar, dass dieses anscheinend vom Versiegen bedrohte Wasserloch den Flüssigkeitsbedarf der vielen Kiboaspiranten decken kann, die den Gipfel auf unserem Abstiegweg angehen. Tatsächlich erfahre ich später, dass es an einer anderen Variante dieses Weges eine ergiebigere letzte Wasserstelle gibt.

An den Horombohütten ist es neblig und regnerisch. Zielstrebig suchen Rolf und ich unser Zelt auf und verschwinden sofort in den Schlafsäcken. Wieder einmal erreicht uns die Kunde, dass es "Tea-Time" ist, im gemütlichsten Dämmerzustand. Schon bald darauf gibt es ein Abendessen, das den Appetit wieder belebt: Reis, Hähnchen, Gemüse und natürlich eine Vorsuppe. Rolf ist von seiner Erkältung und der Anstrengung des heutigen Tages ziemlich mitgenommen, er bleibt mit leichtem Fieber im Zelt und macht sich dort über das Hähnchen her. Unsere Führer erkundigen sich mit echtem Mitgefühl nach seinem Befinden und bieten an, ihm Essen zu bringen, Tee zu kochen oder sonstige Annehmlichkeiten zukommen zu lassen, doch letztlich braucht er einfach nur Ruhe.

Beim Aufstieg über die meistbegangene Route sind die Horombohütten das "Camp 2". Die Größe dieses Lagers verdeutlicht den Andrang, der auf dieser Route herrscht: Neben einem Hüttendorf mit etlichen Zelten gibt es hier auch eine einfache Einkaufsgelegenheit. Sogar Bier ist hier für lumpige zwei Dollar die Flasche zu haben. Doch ich widerstehe der Versuchung und hebe mir diesen Genuss für das Tal auf.

Sonnenaufgang unterhalb des Gilman's Point Der Stufengletscher vom Gilman's Point Blick vom Gilman's Point zum Mawenzi
Der Verfasser am Gilman's Point Der Rebmann-Gletscher Aufbruch zum Uhuru Peak
Etwa vom Stella-Point aus: Der Furtwangler-Gletscher Der Kersten Gletscher Auf dem Gipfel
Wieder einmal ganz oben: Unser Reiseleiter Der Furtwangler Gletscher vom Uhuru-Peak Furtwangler Gletscher und Northern Icefield
Eine schwindende Eisbastion: Der Kersten-Gletscher    
 
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